Der Name Żelechów verknüpft sich in meinem Bewusstsein mit der Erinnerung an meine Mutter, die Großeltern und eine vielzahl liebevoller Verwandten, mit ihrer saftigen jiddischen Sprache, mit für die Juden dieses Städtchens spezifischen Bräuchen, manchmal drollig wirkenden Sinnsprüchen und Aberglauben. All das ist in meiner Seele eingegraben, scheinbar seit meiner Geburt ... Żelechower Erinnerungen verschwinden nicht, sie werden an die Kinder übertragen, an die bereits in Warschau geborenen Enkel wie in meinem Fall und viel weiter – in Israel, Panama, Costa Rica ...
Die Erzählungen meiner Mutter über dieses Städtchen sind bei mir, seitdem ich mich erinnern kann, die Fotos der dortigen Verwandten, sowie deren Vornamen in jiddisch. Zusammen mit meiner Mutter besuchten wir meine Großeltern in Żelechów als ich sechs Jahre alt war. Wir fuhren mit dem Bus von Warschau nach Garwolin, dann weiter mit einem Pferdefuhrwerk ... Die Nachbarskinder meiner Großeltern umzingelten mich neugierig, zeigten auf mich und riefen begeistert und anerkennend: „Sie kommt aus Warschau, ist eine Warschauerin!“. Jedes Kind wollte mich berühren, mit dem Ball spielen, dem bunten Ball, den mir mein älterer Bruder Marek vor der Reise kaufte.
Ich sah mich neugierig um, beobachtete – alle sprachen jiddisch, bedeckt mit Käppchen, die Frauen trugen Kopftücher, ältere Männer mit Bärten und Schläfenlocken, auch die Wasserträger, die die Eimer mit Wasser aufgehangen auf beiden Seiten eines Stockes auf dem Nacken trugen. Alle kannten sich, standen sich nah.
Krieg und Holocaust verschlungen sie. Alle wurden von deutschen Nazis umgebracht, es blieb keine Spur von ihnen, wie auch von meiner Familie, übrig. Ich überlebte das Warschauer Ghetto, deutsche Vernichtungslager Majdanek, Auschwitz, kehrte völlig verwaist zurück, als ob ich aus einem Stein geboren wäre, es blieb mir kein Foto der mir Nahestehenden, um mich zu erinnern, dass ich vor einiger Zeit ein Kind von jemandem war, zu jemanden gehörte.
Jahre verstrichen. Ich erwarb ein Haus in Israel, gründete eine Familie und lebte mit Schmerzen, dass es niemanden auf der Welt gab, der meine Mutter, meinen Vater, meine Brüder kannte. Sie existierten einzig und allein in meiner Erinnerung mit all dem, was in deren Kreis großartig war, mit deren Leiden in der Shoa, im Überlebenskampf, in der Wahrung der Menschlichkeit, bis zum Tod. Dies blieb alles in meinen nicht endenden Erzählungen ... Meine Kinder mussten sich ein Bild der Verwandten in ihrer Phantasie schaffen, die sie noch nicht einmal von einem Foto kannten.
Bis eines Tages, während einer abendlichen Unterhaltung bei Bekannten über das irritierende Verhalten der Jugend ein älterer Teilnehmer aufrief: „Bei uns in Żelechów erzog man die Kinder anders!“ Ich sprang vom Platz auf: „Was?! Du stammst aus Żelechów?! Meine Mutter stammte von dorther!“ Und ich fügte Großvaters Namen hinzu. Arie kannte den Namen, sagte zu mir, dass eine Tante aus Panama neuerlich Israel besuchte, nach überlebenden Verwandten forschte, fragte, ob sich jemand rettete, ob jemandem etwas darüber bekannt sei??
Mother Pola Perl Kijewska
Grynsztejn from Żelechów
Ich erinnerte mich an Tante Esther, ihr Gesicht kannte ich lediglich von einem Foto, weil sie vor dem Krieg nach Panama auswanderte, vor meiner Geburt. Ich wünschte ihre Adresse zu bekommen, erfuhr von Arie, dass es einen Landsmannschaftsbund der Żelechower gibt, organisiert von ehemaligen Einwohnern des Städtchens, die vor dem Zweiten Weltkrieg nach Israel auswanderten (Erec-Israel). Jährlich kommen sie mit Kindern und Enkeln nach Tel Aviv am Tag der Liquidierung des Żelechower Ghettos um der ermordeten Verwandten und aller Żelechower Juden zu gedenken und sie zu ehren.
Dieses Mal erschien ich auch dort. Außer Arie kannte ich hier keinen und war mir sicher, dass mich keiner kennt. Niederdrückende Fremdheit. Jedoch sofort richtete sich der Augenmerk der Anwesenden auf mich. Ein nettes, älteres Paar kam an mich heran, der Mann fragte, wer ich aus Żelechów bin? Ich nannte Großvaters Name und den Vornamen meiner Mutter. Ein breites Lächeln bestrahlte das Gesicht des Fragenden: „Perl (Pola) war meine Freundin, wir tauschten miteinander Bücher aus“ – sagte er mit einer warmen Stimme.
Ich habe mich noch nicht von der Rührung erholen können, da hielt schon das nächste sympathische Paar bei mir an und die Frau schleuderte zugleich mit außergewöhnlicher Energie die Frage an mich: „Wessen bist du?“ (Wessen ich bin? – das bedeutet – ich gehöre jemandem, entstand nicht aus einem Stein!). Wieder nannte ich den Vor- und Nachnamen des Großvaters, annehmend, sie würden sich an ihn erinnern können und nicht an meine Mutter. Die Frau fragte ungeduldig weiter wer meine Mutter war, weil mein Großvater Schlomo Kijewski mehrere Töchter und Söhne gehabt hätte ... „Ich bin Perls Tochter“ antwortete ich überzeugt, dass dieser Name nichts für sie bedeutet. „Perl?!“ – wiederholte sie – „Sie war meine Freundin, ich habe ihr Foto!“
Ich konnte es nicht in mich aufnehmen. Es gibt Mutters Foto! Ich werde sie sehen können! Mutter in ihren Jugendjahren, und ebenfalls Mordechaj Isch-Tova. Ihren Freund lernte ich zuvor kennen, Lebensbruchteile aus den Jahren, als sie noch keine Mutter war, bevor sie mich auf die Welt brachte.
Ita Winograd-Hochberg lud mich zu Besuch ein. Sie und ihr Gatte empfingen mich mit Herzlichkeit und Rührung wie einen Nächsten – aus einer Żelechower Familie. Sie schenkte mir selbstverständlich das Foto meiner Mutter aus ihrer Żelechower Zeit. Sie war damals fünfzehn. Nach einiger Zeit traf ich Dank einem wunderbaren Zufallslauf auch Tante Esther. Sie besuchte erneut Israel. Die Begegnung beschrieb ich in einem Gedicht im Band „Nicht über Blumen“.
In jüngsten Jahren begleite ich oft israelische Jugendliche während ihrer Reisen auf der Suche ihrer Familienwurzeln in Polen. Die Jugendlichen nehmen die Namen und Adressen der Herkunftsstätten ihrer Eltern, Großeltern mit auf die Reise. Sie lesen dort ihre Biographien, fotografieren sich, fotografieren die Heimatstätten ihrer Verwandten.
Während einer dieser Reisen stellte mir eine 17-jährige Schülerin die Frage, ob ich irgend etwas über ein Städtchen wisse, dessen Namen sie so verstümmelte, dass man es nicht verstehen konnte. Ich antwortete, es gäbe möglicherweise ein solches überhaupt nicht. Bis wir nach Treblinka kamen. Sie brachte mir eine Karte mit dem Lageplan der Erinnerungssteine an die Städte, in denen man alle Juden ermordete. Sie zeigte auf den Namen der Herkunftsstadt ihrer Familie geschrieben auf Polnisch. Es stellte sich heraus, sie suchte ... Żelechów!
Plötzlich wurden wir uns so nah, sie, ihre Familie in Israel und in Costa Rica. Wir fanden den Stein, der an Żelechów erinnert, fotografierten uns an ihm. Es fehlen Worte,um die Rührung des Mädchens und dessen Freundinnen ausdrücken zu können. Denn die Vergangenheit lebt in der Gegenwart, in uns!
Treblinka 2004, Sharon Scherman (zweite von links) – Schülerin, die das Städtchen Żelechów suchte ...
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Volume VII, pages 199-203, published by Yad Vashem, Jerusalem in JewishGen, Yizkor Books Database
Last updated April 13th, 2007