Halina Birenbaum
Halina Birenbaum
Man fragt mich immer wieder …
Translated by Rafał Wędrychowski
Man fragt mich immer wieder …
Man fragt mich immer wieder, woher ich die Kraft schöpfe, mich mit diesen grausamen Erinnerungen und den Schauplätzen der Vernichtung auseinanderzusetzen. Ob diese keine negative Wirkung auf mich haben? Wie es dazu kam, dass die Deutschen „so geworden sind, und ob andere heute auch zu „solchen“ Menschen werden könnten? Ob ich nie aufhöre, tagtäglich über den Holocaust nachzudenken und im Schatten der damaligen Ereignisse zu leben? Ob ich je daran gedacht hätte, Selbstmord zu begehen, nachdem alle meine Angehörigen tot waren? Ob ich nach all diesen Grausamkeiten überhaupt noch an Gott glauben kann? Ob ich Menschen treffe, mit denen ich im Lager oder im Ghetto war? Ob ich die Deutschen hasste oder vielleicht immer noch hasse? Wie kommt das, dass ich überhaupt keinen Hass in mir trage? Ob ich nachts von Albträumen geplagt werde und ob es überhaupt Momente gibt in meinem Leben, in denen ich über die Vergangenheit nicht nachdenke? Wie habe ich es geschafft, ins normale Leben zurückzufinden, nach all den Erlebnissen? Ob ich je daran gedacht hätte, die Lagernummer von meinem Unterarm entfernen zu lassen? Welches war das beste, und welches das grausamste Erlebnis von all dem, was mir DORT widerfahren ist? Gab es auch gute SS-Leute? Habe ich nach dem Krieg jemanden aus dem Täterkreis gesehen und wiedererkannt? Was möchte ich den nächsten Generationen weitergeben, und was erwarte ich von ihnen?
Die Israelis fragen mich, wie polnische oder deutsche Jugendliche auf meine Erzählungen reagieren. Warum haben die Polen mein Buch veröffentlicht? Warum wollen die Deutschen überhaupt etwas über die Shoah hören? Und viele, viele andere Fragen mit unzähligen „Wie?, „Warum?“, „Wozu?“ und „Wieso?“ …
Ein Besuch in Auschwitz oder in Majdanek wirkt auf mich keineswegs negativ, ganz im Gegenteil, hier bekomme ich den Sinn meines Überlebens stärker zu spüren.
Vielleicht ist es die Erkenntnis, dass die Übermacht des Monströsen, das unbesiegbar und ewig zu sein schien, letztendlich doch eine Niederlage erlitten hat. Ich glaube dennoch, dass unter gewissen Voraussetzungen, die eine derartige Entwicklung begünstigen, die von Kurzsichtigkeit, Verblendung vom Rassenhass oder von fanatischer Religiosität geprägt sind, auf dem Nährboden von verzerrten Normen und entstellten Wertvorstellungen jede Gesellschaft entgleisen könnte und ihre Mehrheit eben „so“ werden könnte, wie SIE, DIE DEUTSCHEN, DAMALS.
Gott hat dich gerettet …
Im Lager wollte ich nur überleben, das ersehnte Kriegsende miterleben, denn das Leben ist stärker als alles andere. DAMALS konnte ich nicht mehr an Gott glauben, wenn vor meinen Augen Menschen verbrannt wurden, wenn ich immer wieder diesen offenkundigen, rechtmäßig verordneten Mord atmen musste und die Welt sich in Schweigen hüllte und keine Kraft, weder im Himmel noch auf Erden, es aufzuhalten vermochte.
Die Lager wollte ich nur überleben, das ersehnte Kriegsende miterleben, denn das Leben ist stärker als alles andere. DAMALS konnte ich nicht mehr an Gott glauben, wenn vor meinen Augen Menschen verbrannt wurden, wenn ich immer wieder diesen offenkundigen, rechtmäßig verordneten Mord atmen musste und die Welt sich in Schweigen hüllte und keine Kraft, weder im Himmel noch auf Erden, es aufzuhalten vermochte.
Die Menschen im Lager dachten an ein Stückchen Brot, einen Schluck Wasser, einen Zentimeter Raum, um den geschundenen, geprügelten, kranken Körper in Obhut zu bringen. Dort war alles zweifelhaft, bis auf den tausendfachen Tod auf Schritt und Tritt. Es war die Hölle! Und in der Hölle gibt es keinen Platz für Gott. Aber schließlich – fragt man mich weiter – hat dich Gott mehrere Male gerettet? Ja, antworte ich. Der Glaube lehrt uns, dass Gott uns alle liebt und braucht. JEDEN VON UNS.
Ganze Millionen der DAMALS Ermordeten warteten vergebens auf einen Beweis der Vorsehung. Wie hätten SIE auf diese Frage geantwortet? Ich glaube doch nicht, ich sei besser als andere oder diese Welt würde mich mehr brauchen.
Ich muss Zeugnis ablegen …
Ich habe keine Geduld mehr für Dinge, mit denen ich mich früher mit Leidenschaft beschäftigte – manchmal habe ich nicht einmal Lust, ans Telefon zu gehen, den Hörer abzuheben. Als bliebe mir nur noch, die dringendsten Angelegenheiten zu erledigen, das Wichtigste festzuhalten und keine Zeit mehr für etwas anderes zu verlieren.
Am allerwichtigsten ist es jedoch, die Erinnerungen weiterzugeben. Möglichst viel schaffen! Oftmals schleicht sich bei mir dennoch eine gewisse Trägheit oder vielmehr Widerspenstigkeit dem Schreiben gegenüber ein, vorzugsweise dann, wenn ich gefragt werde: „Schreibst du immer noch?“ oder „Schreibst du wieder etwas?“, „Wovon schreibst du jetzt?“, „Immer noch die traurigen, alten Geschichten?“. „Schreibst du immer noch ausschließlich über den Holocaust?“ Dann überkommt mich ein Gefühl der Scham, wenn ich eingestehen muss, dass ich „schon wieder über den Holocaust“ schreibe oder dass ich, von einigen gar nichts geschrieben habe. Ja, es ist wahr, dass schon alles in mir aufgeschrieben ist und ich es irgendwann später zu Papier bringe, aber es ist keineswegs einfach, es den anderen zu erklären.
Ich habe es nieder geschrieben. Ist das schon alles? Kann ich mich jetzt endlich entspannen, ohne das Gefühl, jemandem etwas schuldig zu sein? Ich habe doch eine ganze Menge geschafft, dennoch nicht alles und nicht so, wie ich es gerne hätte. Ich warte also weiterhin auf die eine oder andere Erfüllung und würde am liebsten die Zeit beschleunigen, was eigentlich nichts anderes bedeutet, als das immer kürzere Leben, mehr Falten im Gesicht und mehr graue Haare, nachlassende Kräfte und manchmal auch schwankenden Glauben an den Sinn weiterer Bemühungen. Das Schweigen ist jedoch eine Form von Tod, wo doch so viel mit mir und um mich herum geschah und nach wie vor geschieht.
Vergebung…
Viele Katholiken fragen mich, ob es Chancen gibt für eine christlich-jüdische Einigung. Wie sei es denn um den Dialog und den Weg zur Versöhnung bestellt? Meine Antwort lautet immer, der Weg zum Dialog und zur Versöhnung besteht darin, Wahrheit zu lieben, andere Menschen zu achten und mit ihnen zusammenleben zu wollen, ungeachtet aller Unterschiede. Für die gegenseitige Anerkennung und Achtung ist eine Einigung nicht zwingend notwendig. Die Unterschiede bereichern unsere Welt. Die Versöhnung wird dadurch möglich, dass wir andere Menschen so nehmen, wie sie sind. Jeder hat das Recht so zu sein, wie er sein will, das Recht auf seinen Glauben, seine Weltanschauung, Tradition, Vorlieben und Gewohnheiten – solange sie den Mitmenschen keinen Schaden zufügen, wie etwa im Falle derjenigen, die die Welt mit der Verbrennung von Opfern in Krematoriumsöfen und mit dem Holocaust „bereichert“ haben!
Oftmals werde ich sehr rücksichtsvoll von DEUTSCHEN gefragt, OB ICH DENEN JEMALS VERZEIHEN WÜRDE. Ich suche dann die Antwort auf diese wohl schwierigste Frage in meinem Kopf und in meinem Herzen. Sie gehört womöglich zum Bereich einer sehr spezifischen Logik aus einer vollkommen anderen Dimension. Verzeihen – aber was? Etwas, wofür keine angemessenen Worte zu finden sind, was man mit Worten gar nicht ausdrücken kann? Dennoch ist dieses GESTERN schon längst Vergangenheit, wir müssen doch in den Realien der Gegenwart leben und handeln. Ich komme oft nach Deutschland. Wir lernen uns aufs Neue kennen, nun etwas anders. Wir entdecken einander neu in diesen Begegnungen.
Die Vergangenheit steckt jedoch in uns und zwischen uns, diese grausamen Fakten, die sie nicht kannten, die sie nicht ergründet haben oder es gar vorgezogen haben, sie nicht zu kennen. Und immer wieder dieser Schmerz, der heute auf Verständnis stößt. Das Böse vergessen und verschweigen – das gibt es nicht und wird es nie geben. Ich weiß einfach nicht, mit welchen Worten die Vergebung in solchen Situationen zu beschreiben wäre. Die Antwort ist bei den Ermordeten zu finden, aber sie werden nie mehr sprechen können!
Viele Überlebende der Shoah sind der Meinung, man sollte keine Kontakte mit den Deutschen haben. Ich bin der Auffassung, dass das Hegen von Hassgefühlen zur Festigung des Bösen führt und Selbstvergiftung bedeutet. Warum sollte man sich selbst um die Möglichkeit der Verständigung, zwischenmenschlicher Freundschaft bringen, wo auch immer es geschehen mag? Überall gibt es Menschen, die sich die Verständigung wünschen und dieser auch würdig sind. Dabei muss ich auch eingestehen, dass mich eine verletzende Geste oder Kränkung von deutscher Seite viel stärker schmerzt als jegliches von anderer Seite zugefügte Unrecht. Man ist in solchen Situationen zu gewissen Vergleichen geneigt, die Bilder der erlebten Grausamkeiten kehren auf einmal wieder, der Tonfall der in dieser Sprache erteilten mörderischen Befehle bleibt stets noch eine frische Erinnerung!
Ich habe in Deutschland viele aufgeschlossene, edelmütige Menschen kennengelernt. Viele von ihnen zählen zu meinen herzlichsten und treuesten Freunden. Ich glaube, dass JENE schandhafte Vergangenheit auch ihre heutige Lebenswirklichkeit durch Scham- und Schuldgefühle mitprägt.
Versöhnung
Mit dem Inhalt des Wortes ‚Versöhnung’ verbindet sich so viel!
Besonders angesichts meiner Vergangenheit und der Shoah. Ich werde mich niemals mit einseitigen, engen Begriffen abfinden, in ausgetretenen Bahnen und auf bequemen Wegen von feinen und anspruchsvollen Tendenzen gehen, nur das tun, was sich lohnt, sagen, was alle anderen auch sagen, denn das erwartet die Mehrheit in gegebener Zeit und Situation…
Ob ich es will oder nicht, werde ich zur Partei in verschiedenen Konflikten in der ständigen Auseinandersetzung mit meinen eigenen Erfahrungen, die Wahrheit zu hören, mich daran zu erinnern, was so viele schmerzt und was viele am liebsten vergessen würden.
Manchmal hadere ich mit mir selbst, denn bei verschiedenen Zwischenfällen versetze ich mich im Nachhinein in die Lage des Anderen. Ich versuche, seine Denkweise und Argumente nachzuvollziehen, was vielfach zu Gewissensbissen, Reue und dem Wunsch nach gegenseitiger Vergebung führt.
Die größte Freude macht es mir, wenn sich Feindseligkeit in Verständnis verwandelt und die aus welchen Gründen auch immer überstrapazierte Freundschaft wieder auflebt. Dieses darf allerdings nicht so geschehen, dass wir etwas billigen, was eine Legitimierung nicht verdient und um irgendwelche hehren Ziele zu erreichen. Dann wäre der Preis viel zu hoch. Damit würde ich mich niemals zufrieden geben oder einverstanden erklären.
Wie soll ich nun so viele Stufen auf einmal emporsteigen – von der gewohnten Selbstwahrnehmung als Ehefrau und Mutter, Zeitzeugin der Shoah -, auf einmal in die so würdige und anspruchsvolle Rolle treten, die mir 2001 durch die Auszeichnung „Mensch der Versöhnung“ zuteil wurde?
Ich war von Zweifeln erfüllt, die sich mit Stolz und Angst vermischten. Habe ich diesen ehrenvollen Titel – „Mensch der Versöhnung“ – überhaupt verdient? Er wurde mir in Warschau verliehen, in meiner Geburtsstadt, wo meine Eltern sich sehr bemühten, mich zu einem anständigen Menschen zu erziehen. Sie brachten mir auch noch im Warschauer Ghetto die humanen Werte bei, in diesem Stadtteil, dessen Leben auf bestialische Art und Weise vernichtet wurde, wo ich als jüdisches Kind als eine der ersten zusammen mit den Kranken und Gebrechlichen sterben sollte. So sollte es geschehen nach den in NS-Deutschland geltenden Gesetzen und dem dort erarbeiteten Konzept der „Neuordnung“ Europas. Den Rest der gesamten Lehre über die Welt, die Menschen, ihre Moral und ihren Glauben sollte ich bald selbst kennenlernen, in der Hölle der Vernichtungslager, ohne MUTTER, die in der Gaskammer von Majdanek den Tod fand, und ohne VATER, der in Treblinka ermordet und verbrannt wurde, ohne meinen BRUDER und meine junge SCHWÄGERIN, die mir die Mutter ersetzte – beide wurden in Auschwitz zu Tode gequält und verbrannt.
Viele lange Monate stand ich stundenlang auf dem Appellplatz in Birkenau, ich versank im Morast, völlig durchnässt vom Regen, frierend, in verlausten und vermoderten Klamotten. In den viel zu großen, klobigen, mit Matsch oder Schnee verklebten Holzschuhen an meinen mit Wunden bedeckten Füßen, gegenüber der Lagerrampe, auf die Tag und Nacht mit Menschen überfüllte Züge einfuhren, und diese Menschen wurden aus den Viehwaggons hinausgetrieben und mit Schreien und Peitschenhieben in die benachbarten Gaskammern gejagt und gepfercht, in diese aus den Krematoriumsöfen hoch in den Himmel aufsteigenden Flammen. Unwillkürlich habe ich die Absurdität der mir so beflissen beigebrachten Werte und Verhaltensnormen mit der mich umgebenden Realität verglichen. Wie oft wurde ich damals zurechtgewiesen oder getadelt, als ich diesen strengen Grundsätzen nicht gerecht werden konnte! Hier gab es wirklich nichts, keine Illusion, nicht einmal die, dass man andere Menschen nicht straflos töten und verbrennen darf, denn kein göttlicher Ruf vom Himmel würde diese unermesslichen Verbrechen verhindern und die Welt erschüttern… Dort habe ich mehr verloren, als der Glaube meiner Eltern und Vorfahren mir bedeutete.
Den eigenen Wunden zulächeln
Dennoch ist ein neues, gewaltiges Gefühl entstanden, dass das Leben doch Sinn hat. Es war eine Auseinandersetzung mit der menschlichen und der eigenen Seele, aus der ich damals alle Kräfte schöpfte, um an diese erbarmungslos unvorstellbaren Umstände heranzureifen. Ich habe sie als die einzigen Normen angenommen an diesem Ort, wo es keinen anderen Ausweg gab, als den Rauch aus dem Schornstein des Krematoriums. Ich harrte aus, solange die Kräfte reichten, unter immer grausameren Bedingungen, ohne mich selbst und das Bewusstsein dessen zu verlieren, was im Leben wirklich wichtig ist, wie ein Mensch, wie ich selbst sein soll.
Ich habe mir all die Ereignisse eingeprägt, die um mich herum sterbenden Menschen, ihren Lebenswillen und ihr Flehen, sei es nur um der Erinnerung willen, sollten sie letztendlich doch nicht überleben. Jedes Detail ihres und meines Leidens steckt ganz tief in mir, auch die kleinsten Stücke des Guten, der leichteste Lichtblick, die Wärme der Freundschaft in diesen erbärmlichen Fetzen des Lebens mitten im ungebändigten, tödlichen Ungewitter.
Den eigenen Wunden und dem eigenen Waisenschicksal zulächeln. Als meine größte Kraft- und Energiequelle erwiesen sich meine unzähligen Erfahrungen, die ich seit September 1939, als ich gerade zehn Jahre alt wurde, sammeln musste, als mein Alter plötzlich nach vollkommen anderen Maßstäben gemessen wurde. Sie bleiben bis heute die Quelle meiner Kraft auch für diejenigen, an die ich diese Erinnerungen weitergebe – ohne Groll, Verzweiflung oder Hass.
Dank dieser Erzählung wird dem Zuhörer auf einmal der Wert und der Sinn des Lebens, der Freundschaft, Liebe, Hingabe bewusst, man gewinnt damit einen neuen Blick auf das Leben und die Geschichte.
Und dann wird alles, was Menschen voneinander unterscheidet, verwischt, es werden keine provokativen Fragen mehr gestellt, das Wort „Jude“ ruft kein ironisches Grinsen hervor, es gibt gar keinen Raum mehr für jegliche Feindseligkeit und keinen Grund dafür. Vielleicht ist es eben hier, wo das Göttliche unwillkürlich entsteht? Ich war immer und bin heute noch überzeugt, dass es für das Schweigen keinen Rechtfertigungsgrund gibt.
Das Gute ist mächtiger als das Böse
Es gibt kein GUT und BÖSE, das von allein entstehen würde. Weder das Eine, noch das Andere erscheint als etwas Exklusives oder Absolutes, es gibt kein „Entweder-oder“. Allerdings ist es sehr einfach, das BÖSE zu entfachen und zu verbreiten – um das GUTE muss man sich dagegen lange und intensiv bemühen. Alles steckt in uns Menschen. Es liegt an uns, durch uns entsteht es und durch uns geht es verloren, und zwar nicht unbedingt nur durch diejenigen, die den Glauben an den christlichen Gott nicht teilen.
Ich achte und respektiere den Glauben, der Anderen, auch fremde Meinungen, und bemühe mich darum, dass auch ich und meine Herkunft toleriert werden. Ich fühle mich immer in erster Linie als MENSCH, die nationale Zugehörigkeit ist für mich nicht entscheidend. Wenn aber jemand meine Nationalität angreift, bin ich selbstverständlich Jüdin.
Genauso schäme ich mich und bin empört, wenn meine jüdischen Mitmenschen andere wegen deren Nationalität oder Religion attackieren.
Ich bin nicht ängstlich und will mich vor dem Schmerz meiner Erinnerungen nicht verstecken. Wenn ich darüber spreche, diese Erinnerungen weitergebe, denjenigen vor allem, die das Glück hatten, später zur Welt zu kommen, habe ich nicht das Gefühl, alte Wunden zu öffnen und zu reizen. Diese Wunden bleiben in mir und gewissermaßen in der ganzen Menschheit, egal ob man darüber spricht oder es verschweigt.
Die Vermittlung der Wahrheit über Auschwitz ist eine große Lehre, eine große Antwortsuche, das Beibringen der Toleranz an andere Menschen, die Befreiung vom Bösen, das unablässig auf uns lauert, und nicht selten in uns selbst steckt, wenn uns die Flucht vor schwierigen Erfahrungen und Erinnerungen zugeflüstert wird. Das Gute und die Liebe können in jedem Menschen entstehen, genauso wie das Böse bei jedem Menschen zutage treten kann, unabhängig von seiner Herkunft, Konfession, Religiosität. Davon habe ich mich bereits mehrmals überzeugen können.
Ich weiß, dass es auf der Erde nichts gibt, was zweifellos, vollkommen, ewig wäre – weder das Gute noch das Böse. Beides existiert, verändert sich, wie Licht und Dunkelheit, Leben und Tod. Ich bin der Meinung, dass es auf diese Welt mehr Böses als Gutes gibt, das Gute ist jedoch mächtiger, sodass das Böse nie endgültig siegen kann, sonst würde diese Welt doch längst nicht mehr existieren. Ich bemühe mich, anderen Menschen nichts anzutun, wovon ich weiß, dass es mir wehtun oder mich verletzen würde. Ich möchte lediglich meine Erfahrungen mit Hilfe von meinen tiefsten, ehrlichsten Emotionen weitergeben. Sie sind es nämlich, die jeden einzelnen Menschen erreichen können, ob Christ oder Jude, katholisch oder evangelisch, Geistlicher oder Laie, jung oder alt. Sie sprechen etwas an, was allen gemeinsam ist, - wie Leiden, Freude, Trauer, Schmerz, Sehnsucht nach Liebe, Wärme und Hoffnung.
Auschwitz ohne Angst berühren
Unterlagen, Statistiken, trockene Fakten – und Datensammlungen, lakonisch und komprimiert in ihrer amtlichen Form. Nein, sie sind es nicht, worauf ich mich stütze, wenn ich meine Erfahrung der VERNICHTUNG weitergebe. Diese Erfahrungen trage ich in mir, in meinem Herzen, in meiner Seele, in meinem Bewusstsein, und sie bleiben dort, bis mein Verstand vom Nebel des heranziehenden Lebensendes umhüllt wird. Vielleicht werden sie sogar dann noch frisch und lebendig bleiben als die letzten Bewusstseinsschimmer. Und die Häftlingsnummer auf meinem Unterarm bleibt auch noch, als der sichtbare Beweis für all das Geschehene, für die Ewigkeit.
Nach der Befreiung aus den NS-Lagern, als ich als vergreiste Fünfzehnjährige in das zertrümmerte Warschau zurückkam, um dort unter meinen Toten nach Lebenszeichen zu suchen, wäre es mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, wieder einmal nach Auschwitz, Majdanek oder Treblinka zu fahren. Ich genoss meine zurückgewonnene Freiheit und das Gefühl, darüber endlich einmal in der Vergangenheitsform berichten zu dürfen.
Dann zog ich weit weg und dachte, dass ich mein Geburtsland schon für immer aus meinem Wahrnehmungshorizont verloren habe und es nie mehr besuchen werde.
Meine Kinder haben jedoch von klein auf den Klang der polnischen Sprache hören können, die ich mit meinem Mann und mit unseren engsten Freunden gesprochen habe. Sie kannten auch den Namen Auschwitz – Oswiecim, sie wussten, dass wir als Waisenkinder keinerlei Verwandtschaft haben, sie sahen die auf meinem Unterarm eintätowierte Häftlingsnummer. Sie wussten auch, dass ich etwas anders bin als die Mütter ihrer israelischen Freunde. Mein Anderssein haben sie nicht immer verstehen und auch nicht immer akzeptieren können.
Nach fast vierzig Jahren wurde mir erlaubt, für einige Tage nach Polen zu fahren. Mein älterer Sohn und mein Mann warnten mich, ich solle bloß nicht nach Auschwitz und Treblinke fahren, dort würde ich bestimmt einen Herzinfarkt bekommen. Dennoch waren gerade diese vom Leiden und Folter gezeichneten Orte das Hauptziel meiner Reise. Ich wollte nun ihre Tore von niemandem gezwungen, aus eigenem Willen passieren, sie ohne Furcht berühren.
Im Juni 1986 kam ich mit einer israelischen Gruppe nach Warschau. Von allen anderen und von mir selbst losgelöst ging ich durch meine Heimatstadt aus der Vorkriegszeit über Wege, die mein Leben mit vorgezeichnet hat.
Dann kam ich endlich nach Oswiecim. Es war ein heiterer Sommertag. Die Sonne, der blaue Himmel und der Stacheldrahtzaun, das Lagertor, die Baracken. Es war hier! Ich bin da. Die an diesem Ort herrschende Stille und das allgegenwärtige Grün erlauben es mir, mich mit allen Sinnen, jedoch ohne Angst, in die damalige Zeit zurückzuversetzen. Ich höre Stimmen, Klagerufe, Flüche, ich stapfe durch den Matsch, habe Angst aufzusehen, um auf die Wachtürme zu schauen…
Das Pfeifsignal zum Appell, dann das wahnsinnige Gedränge, um einen „besseren“ Platz auf dem Appellplatz vor dem Häftlingsblock zu bekommen, Hunger, der den Magen zusammenschrumpfen lässt, beißende und schneidende Kälte. Noch ein Pfeifsignal, das zur Selektion aufruft. Das Gebrüll des Todes in der Luft, im Himmel und auf Erden. Alles ist so furchtbar, dass es eigentlich gar nicht mehr grausam ist, denn das Allerschlimmste, Unvorstellbare wurde zur tagtäglichen Realität, in der man kein Mensch mehr ist, in der das Leben nichts mehr wert ist, gar nichts mehr bedeutet, wenn man der deutschen Herrenrasse nicht angehört. Die Worte sind dort auch nichts wert, denn sie können diese höllischen Abgründe gar nicht beschreiben – sie werden unbrauchbar.
Alles brennt und verbrennt im Feuer der Krematoriumsöfen. In meinen Lungen und in meinem Herzen trage ich noch diesen Rauch. Ich atme ihn auch hier so kräftig und eindringlich!
Ist es überhaupt möglich zu verstehen, wie viel und was mich mit diesem Ort verbindet, selbst mit dem Wortlaut seines Namens? Wie sehr ich dazugehöre? Ich habe überlebt. Heute kehre ich als ein freier Mensch zurück!
Jetzt wird es niemand mehr leugnen
An einem Januarmorgen 1997 klingelte in meinem Haus in Herzlia das Telefon. Ich wurde benachrichtigt, dass mein Name in den Unterlagen des KL Auschwitz gefunden wurde, die die Gedenkstätte Auschwitz aus Moskau erhielt.
Hala Grynsztajn, Häflingsnummer 48693, und in der Rubrik ‚Geburtsdatum’ – ein Fragezeichen!... Tränen bleiben mir im Hals stecken. Nur eine trockene Notiz, und so viel Inhalt! Eine schriftliche Bestätigung jener Zeit! Also ist es doch alles wahr, was ich erzählt, geschrieben, auf Band gesprochen habe. DAS WAR ICH. Ich bin eingetragen worden, nun kann es niemand mehr leugnen!
Halina Birenbaum (geb. Grynsztejn-Balin) – Schriftstellerin und Dichterin. Sie schreibt und publiziert in Polnisch und Hebräisch. Ihre Erlebnisse aus der Zeit des Holocaust teilt sie seit Jahren mit Jugendlichen in Israel, Deutschland und Polen.
Sie ist Autorin von Erinnerungen „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ (poln. Erstausgabe 1967), „Rückkehr in das Land der Väter“ (1991). „Kazdy odzyskany dzien“ (1998: Jeder wiedergewonnene Tag, nur auf Polnisch). „Wolanie o pamiec“ (1999; Ruf nach Erinnerung, nur auf Polnisch). „Echa dalekie i bliskie. Spotkana Z mlodzieza“ (2001: Ferne und nahe Echos. Begegnungen mit Jugendlichen, nur auf Polnisch) sowie Gedichtbänden wie „Nawet gdy sie smiejc“ (1990; Selbst wenn ich lache, nur auf Polnisch), „Nicht der Blumen wegen“ (1990), „Jak mozna w slowach“ (1995; Wie kann man in Worten, nur auf Polnisch).
2001 wurde sie vom Polnischen Rat der Christen und Juden mit dem Titel „Mensch der Versöhnung“ ausgezeichnet.
Halina Birenbaum wurde am 15. September 1929 in Warschau als jüngstes Kind von Jakub und Pola Grynsztejn geboren. Der Vater arbeitete als Handelsvertreter, die Mutter führte den Haushalt und trug mit Häkeln zum Unterhalt bei.
Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs war Halina zehn Jahre alt und wollte in die 3. Klasse der Grundschule gehen. Ihr Bruder Marek studierte Medizin, ihr Bruder Chilek besuchte eine Handwerksschule.
„Die Grausamkeit von all dem, was sich ringsherum abspielte, war unermesslich. Eine hohe Mauer trennte uns im Spätherbst 1940 von der ‚arischen’ Bevölkerung“, erinnert sich Halina Birenbaum, „Hunger, Dreck, Epidemien brachten vielen den Tod. Neue Nachrichten über erneute Siege in Deutschland, über Morde an Juden, später auch über die Errichtung von Gaskammern in Kulmhof, Belzec und Auschwitz erreichten uns fast jeden Tag. Ich träumte damals, ich wache einen Morgens auf, und es wird keine Deutschen in Warschau mehr geben, sie verschwinden einfach aus unserem Leben, so plötzlich, wie sie in dieses eingedrungen waren…“
Im Sommer 1942 wurde Halinas Vater von den Nationalsozialisten nach Treblinka deportiert und dort ermordet. Ein Jahr später drohte dieses Schicksal dem älteren Bruder Marek, der sich aber wie durch ein Wunder durch eine gewagte Flucht von dem Transport retten konnte. Dann tauchte er unter und überlebte bis zum Kriegsende in einem Versteck in Warschau.
Nach der Liquidation des Warschauer Ghettos wurden Halina, ihre Mutter sowie ihr Bruder Chilek mit seiner frisch angetrauten Frau Hela in das Konzentrationslager Majdanek bei Lublin verbracht. Die Mutter hat die Selektion nicht überstanden und fand den Tod in der Gaskammer. Der Bruder wurde nach Auschwitz deportiert, wo er später umkam. Für die junge Halina blieb ihre Schwägerin Hela die letzte Stütze. „Hela kämpfte für mich um einen Platz auf dem Fußboden der überfüllten Baracke, um eine Suppenschüssel, von denen es stets viel zu wenige gab für die vor Hunger und Durst wahnsinnigen Frauen. Wir trennten uns nicht einmal für einen Augenblick voneinander. Doch Hela wurde zunehmend magerer, schwächer, sie wurde immer weniger und ich fing an erbittert zu kämpfen, um sie nicht zu verlieren“, erinnert sich Halina Birenbaum.
Am 8. Juli 1943 landet sie mit Hela zusammen im Konzentrationslager Auschwitz. „Auf der Fahrt klammerten wir uns fest aneinander und träumten von einem besseren Lager“, berichtet Halina Birenbaum, „bald erschien vor unseren Augen ein Tor mit der großen Aufschrift: ‚Arbeit macht frei’,“ Halina erhielt die Lagernummer 48693. Ihre Schwägerin überlebte lediglich einige Wochen. „Sie verwandelte sich in ein lebendes Skelett. Eingefallene Wangen, große, ausgehungerte Augen, knochige Arme und Beine. Ich versuchte ihr einzureden, dass der Krieg bald zu Ende geht und sie wieder gesund sein wird, wie früher. Sie wurde von Fieber, Skorbut und andauerndem blutigen Durchfall regelrecht aufgezehrt. Nachbarinnen von unserer Pritsche versuchten mich zu überreden, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Sie hatten keine Ahnung, was Hela mir bedeutete, gesund oder krank!“
Hela starb im November. Sie war erst zwanzig Jahre alt. „Keiner brauchte mich mehr, auch ich selbst nicht. Ich lebte wie eingeschnürt in einem Panzer von Teilnahmslosigkeit“, sagt Halina Birenbaum, „Einsamkeit, Fremdheit und Feindseligkeit ringsherum, denn nicht einmal Luft zum Atmen gab es genug für alle, man musste um alles zerren und kämpfen. Züge, die fast pausenlos Menschen in den Tod transportierten, hielten an der Rampe gegenüber von meinem Lagerblock, Feuer aus dem Schornstein, der Geruch des brennenden menschlichen Fleisches, Morast, Krankheiten, eiternde Wunden am ganzen Körper, Krätze, Läuse, Typhus und die Selektionen. Ich habe alles durchgemacht, entging knapp dem Tod, oder er hat mich gemieden. Ich wusste nicht mehr, wo ich hingehöre. Diejenigen, mit denen ich hierher mit dem Transport vom Warschauer Ghetto und von Majdanek verschleppt wurde, sind schon längst als Rauch aus dem Schornstein des Krematoriums verweht worden.“
Halina Birenbaum hat Birkenau überlebt. Am 18. Januar 1945 erreichte sie mit dem „Todesmarsch“ das Konzentrationslager Ravensbrück und anschließend Neustadt-Glewe. „Als wir mit dem Zug fuhren, schaute ich mir die vorbeiziehenden deutschen Städte an. Von hierher kamen sie also zu uns, brannten alles nieder, nahmen uns alles weg? In diesen hübschen Häusern wohnen deren Ehefrauen, Mütter, Kinder? Wissen sie überhaupt davon? Sollte ich überleben, dachte ich, so werde ich zu ihnen kommen wollen und erzählen… 1989 war es soweit. Ich sollte als freier Mensch nach Berlin kommen, mit meinem Buch ‚Die Hoffnung stirbt zuletzt’ und mit dem Film ‚Wegen dieses Krieges’.“
3. Mai 1945. In Zivil gekleidete Deutsche fuhren davon. Das Tor des Konzentrationslagers Neustadt-Glewe blieb offen. „Ich konnte mich über die wiedererlangte Freiheit nicht freuen. Für die Freude war ich damals noch nicht richtig geboren, ich war eine ausgebrannte Greisin.“
Halina Birenbaum kehrte als sechzehnjähriges Mädchen nach Warschau zurück. Dort traf sie ihren Bruder Marek, der den Holocaust überlebt hatte. 1946 verließ sie illegal Polen. Mit einer Gruppe von jüdischen Jugendlichen erreichte sie am 3. Dezember 1947 mit einem Schiff den Hafen von Tel-Aviv. Seitdem lebt Halina Birenbaum in Israel. In den letzten Jahren besucht sie jedoch regelmäßig Polen, um sich mit Jugendlichen zu treffen und mit ihnen auf eine beeindruckend emotionale Art und Weise ihre tragischen Erinnerungen zu teilen.
Alicja Bartuś
Herzlichen Dank an meine Freundin Ruth Schubert fuer ihr Beitrag zu diesen deutschen Text
אנשים שואלים שוב ושוב (Hebrew)
Promotion of the Book in the “The International Youth Meeting Center (MDSM)
at Oświęcim” (Międzynarodowy
Dom Spotkań Młodzieży w Oświęcimiu
)
http://www.mdsm.pl/pl/publikacje-menu/132-ludzie-wciaz-pytaja
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Halina Birenbaum
in Poland with Israeli students from Ulpana Even Shmuel
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Last updated December 29th, 2012