Halina Birenbaum

Achmed

 

Vor unserem Haus stand ein Baum, der uns schon längere Zeit störte. Wir konnten niemanden finden, der diesen Baum für einen annehmbaren Preis fällen würde. Eines morgens fiel mir in der Nähe ein Mann auf. Er war klein und dünn, mit dunkler Hautfarbe, dunklen Augen und lockigem Haar, er trug abgenutzte Arbeitskleidung und über der Schulter einen Korb mit Gartenwerkzeug. Ich fragte ihn, ob er mir im Garten helfen könnte.

 

Obwohl er arabisch sprach, kann ich euch sagen, dass er einverstanden war, denn er folgte mir sofort. Nach all der Warterei und Sucherei, dem von Haus zu Haus Laufen mit seinem Korb, fing er sofort an zu arbeiten. Er arbeitete hart, doch in einer primitiven Art und Weise; er kannte nur wenige Wörter auf Hebräisch, doch schon bald verstanden wir es, auf unsere Art zu kommunizieren. Intensiv verhandelte und diskutierte er mit mir und pries seine Arbeit in einem Kauderwelsch aus Hebräisch und Arabisch, verstärkt durch seine Mimik.

 

Seine Heimat war eine Siedlung in der Nähe von Rafiyah auf der anderen Seite von Gaza. Sofort begann er mit dem Versuch, mich davon zu überzeugen, dass in meinem Garten neues Gras gepflanzt und regelmäßig Unkraut gejätet werden müsste. Als ich ihn auf die Kosten ansprach, begann er mir von neuem zu erzählen, wie angemessen sein Preis sei, und  senkte ihn, bis er meinen Erwartungen entsprach. So ging es immer weiter über die folgenden Jahre. Während der Arbeit gab ich ihm meistens Kaffee und Sandwiches oder manchmal bei heißem Wetter einfach ein kaltes Getränk. Nie vergaß er, mir zu danken, indem er etwas auf Arabisch murmelte wie, er wünsche mir Gesundheit, und pries mich fast bis in den Himmel.

 

 Er bat mich häufig um ein paar Pfennige für seine Fahrtkosten, dabei spielte es keine Rolle, auf welche Bezahlung wir uns schon geeinigt hatten. Für diesen zusätzlichen Zuschuss dankte er mir immer überschwänglich. Er fand auch Arbeit bei meinen Nachbarn. Wie auch immer, er ließ seine Gartenwerkzeuge jeden Tag bei mir, auch freitags, da er dann immer seine Familie besuchte. Mein Haus war seine Basis. Er kam und ging in meinen Garten, so wie er es für nötig hielt. Als seine Schuhe auseinander fielen, bat er mich um Hilfe. Ich gab ihm öfter Dinge, die wir nicht mehr brauchten, die aber sehr nützlich für ihn und seine Familie waren.

 

Die Lage wurde angespannter. Es gab nun arabischen Terror – erst waren es nur Messerattacken, doch dann wurde es die Intifada. Feindliche Anschläge in Jerusalem und überall im Land. In den besetzten Gebieten wurden Hausbesitzer von ihren arabischen Arbeitern ermordet. Angriffe und Attacken auf den Straßen, Explosionen in Bussen gehörten auch dazu. Ich habe über all das kontinuierlich und ängstlich in den Zeitungen gelesen, im Radio gehört und habe die Opfer von beiden Seiten im Fernsehen gesehen.

 

Es war bis dahin immer noch fern von mir. Achmed kam und kniete sich hart in die Arbeit. Er war freundlich, vertrauenswürdig und treu, als ob er nichts mit all dem zu tun hätte, als ob es uns nichts angehen würde. Ich kannte keinen anderen Araber und hatte nur wenige vorher gesehen, weil sie nicht in meiner Nähe wohnten. Ich habe von blutigen Vorfällen gehört, seitdem ich in Israel lebe, und ich habe Angst und fühle den Schmerz der Familien, die jemanden verloren haben und noch verlieren werden – aber es hat von meiner Seite aus nichts mit Achmed und von seiner Seite nichts mit mir zu tun.

 

Manchmal hat er seinen Sohn mitgebracht. Der Junge war um die 15 Jahre alt – hilfreich, höflich und anständig. Er arbeitete energisch, um seinem Vater zu helfen. Achmed hatte eine Reihe von Kindern und arbeitete hart für seinen Lohn, den er jede Woche mit nach Hause brachte. Zwischenzeitlich schlief er bei Bekannten in Tulkarem, da er die Nacht nicht auf israelischem Boden verbringen durfte. Er hatte ein gutes Verhältnis zu seinen jüdischen Arbeitgebern aufgebaut und verbesserte zunehmend sein Hebräisch. Noch immer schaut er nach Unkraut in unserem Garten und versucht mich immer lauthals davon zu überzeugen, dass etwas getan werden müsse. Er drückt den Klingelknopf und ruft mich nach draußen. Damit unterbricht er mich beim Schreiben, was ich wirklich nicht mag. Unbedingt will er mich auf den dringend notwendigen Heckenschnitt oder das unumgängliche Jäten des Hofes aufmerksam machen. Dem erneuten Verhandeln um den Preis folgt das Versprechen bei Allah, dass er es nur für mich tun werde. „ Bishvilek eynaim sheli“ , ich würde meine Augen für dich geben“, er wird es günstig machen – und natürlich wird er es am Ende für den halben Preis machen. Doch er muss immer hoch anfangen, wie auf den arabischen (und jüdischen) Marktplätzen...

 

Eines Tages rief er mich nach draußen und brachte mir einen kleinen Vogel. „Nimm, es ist eine mitzvah (eine gute Tat), es ist eine sehr schöne Kreatur, selten, ich habe ihn gefunden...“ Ich habe Katzen zu Hause und in meinem Garten, wie soll ich ihn also aufnehmen? Da beschloss er, den Vogel für seine Kinder mit nach Hause zu nehmen, doch wohin mit ihm bis zur Erledigung der Arbeit? Also bauten wir einen provisorischen Vogelkäfig aus einem alten Ofen. Er bat mich, Wasser und Buchweizenkörnen zu holen. In dem Land der Intifada, der Steine, der Messer, des Tötens, des Hassens, der unschuldigen Opfer auf beiden Seiten zerbrachen Achmed und ich uns den Kopf über einen kleinen Vogel, den er gefunden hatte und der irgendwo aus einem Nest gefallen war.

 

Plötzlich kam Achmed nicht mehr. Eine Woche verstrich, dann wurden es zwei. Sein Korb blieb an der gewohnten Stelle, wartete nutzlos auf seinen Besitzer. Ich konnte mir nicht vorstellen, was vielleicht passiert sein konnte. Er kam doch immer, um seine Werkzeuge abzuholen und zur Arbeit zu gehen, und ich hatte mich an seine Anwesenheit schon mehr gewöhnt als an manches andere in meiner Umgebung! Sie hatten ihn immer aus dem Gazastreifen gelassen, weil er nicht mehr jung war und eine große Familie hatte, Kinder – Leute wie er durften immer nach Israel zum Arbeiten kommen.

 

Endlich klingelte er an der Tür. Ich rannte nach draußen, überrascht aber glücklich über seine Rückkehr. Sein Gesicht war unrasiert und seine Augen sahen grimmig aus. „ Sie haben meinen Sohn getötet!“ sagte er an der Schwelle. Nein! Der Junge, der ihm geholfen hatte, war inzwischen gewachsen und ein Mann geworden. Ich kannte ihn. Ich merkte, wie der Boden unter meinen Füssen verschwand. Jetzt war es genau hier, so nah bei mir. Unsere Soldaten haben ihn getötet. Unsere Soldaten haben ihn getötet, als er mit einer Gruppe auf unser Territorium kam, um nach Arbeit Ausschau zu halten. Er stand neben seinem Vater. Ein Offizier gab den Soldaten den Befehl, auf ihn zu zielen – „Nicht ihn!“ aber da lag er schon tot zu Achmeds Füßen.

 

Ich presste meine Hände an die Schläfen, fühlte mich so schlecht! Schuldig, hilflos, fassungslos. Mir fehlten die Worte, ich fühlte mich wie ein Fremder in mir selbst, ich konnte es nicht fassen, langsam drehte ich mich um und ging hinein, um ihm etwas zu trinken und etwas Geld zu bringen. „Nimm das für deine Kinder. Auch wenn du für eine Weile nicht gearbeitet hast“, bat ich ängstlich. Es war mehr, als ich ihm jemals am Ende unsrer Verhandlungen um den Preis gezahlt hatte – dieses war anders. Aus dem Herzen. Er war überrascht, verdeckte sein Gesicht mit den Händen und weinte bitterlich, dann schaute er zum Himmel und sagte „ Möge Allah dich segnen“.

 

Er fing wieder mit der Arbeit an, doch mit längeren und kürzeren Unterbrechungen wegen der politischen Lage. Immer öfter wartete sein Korb mit Werkzeug vergebens. Es wurde zunehmend schwieriger für Achmed zu uns zu kommen, ein wenig Geld zu verdienen, um seine hungernde Familie zu ernähren.

 

Mein Mann, meine Söhne und ich konnten dieses schreckliche Ereignis für eine lange Zeit  nicht vergessen. Auch ich muss etwas Dummes eingestehen, unter der Beeinflussung der unaufhörlichen Nachrichten... Das nächste Mal nach dem schrecklichen Geschehen, als Achmed an der Tür klopfte, zitterte ich und antwortete nicht sofort. Ich war plötzlich voller Angst. Vielleicht wollte er Rache für den Tod seines Sohnes an dem Juden, der ihm am nächsten stand, üben, und wer stand ihm näher als ich? Ich hatte über solche Dinge schon öfter gehört. Wie auch immer, am Ende öffnete ich immer die Tür und es war alles wie es war, oder sogar noch besser, denn Achmed erinnerte sich daran, wie ich geweint und versucht hatte ihm zu helfen, als er mir von seinem schweren Schicksal erzählt hatte. Er hatte nicht gezweifelt. Menschen sind immer Menschen, was auch geschieht – darin wurde ich wieder einmal zu meiner Scham und durch den unvorhersehbaren Umstand belehrt!

 

Achmed kam eines Tages wiederum nach einer sehr langen Unterbrechung. Er erklärte mir, dass seine Werkzeuge stumpf und rostig geworden seien. Er hatte sich einen neuen Korb, eine neue Schaufel und eine neue Hacke gekauft, hatte ein oder zwei Tage gearbeitet – und nun steht dieser verlassene Korb wieder dort und wartet auf seinen Besitzer. Wer weiß, ob er wieder kommen wird? – Die Situation spitzt sich immer mehr zu.

 

 

Halina Birenbaum, 1996

(Übersetzung der englischen Fassung von William Brand: Kornelia Günther, Imke Just, Anne-Katrin Luther) 

 

 

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