Halina Birenbaum
Meine erste Reise nach Deutschland
Translated by Helmut Pientka
Im deutschen Flugzeug. Datum? Mir scheint, dass es derselbe Tag und Monat ist, an dem ich vor drei Jahren, nach vierzig Jahren, nach Polen flog. Es ist nur schwer ins Bewusstsein zu bringen, wie das Ganze zustande kam, was mich herbeiführt. Ich begreife nicht, was ich hier soll! Ich fliege zusammen mit meinem Gatten. Ich wagte es diesmal nicht allein zu fliegen, weil das Ziel dieser Reise ist ... Berlin. Geschichte – das ist es, was uns in Hitlers ehemalige Hauptstadt trägt. Wen aber interessiert die Geschichte in der heutigen, dynamischen Alltäglichkeit? Wen interessiert es hier, und umso mehr dort, wo wir in zwei ein halb Stunden landen werden? Wir wurden jedoch eingeladen, man schickte uns Tickets zu. Also jemand interessiert sich doch – oder amüsiert sich auf irgendwelche Weise? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemandem wirklich am Herzen liegt wie mir. Für mich ist es keine Geschichte. Nein, ich fühle keine Angst. Ich fühle gar nichts. Eine seltsame Apathie oder eine unbegreifliche Gleichgültigkeit? Und Erstaunen. Wieso ich hier? Wohin? Wer ist eigentlich Fritz Mille, der mich einlud und zur Hinfahrt verleitete? Wer wird uns auf dem Flugplatz erwarten, wohin bringen? Ich habe nichts rechtzeitig abgeklärt.
Es plagt mich Müdigkeit. Im Flugzeug recht viele hellhaarige, blauäugige Köpfe, Deutsche – Männer, Frauen, ein hellhaariges Kind und braungesichtige aus der Sowjetunion, genauer aus Grusinien stammende Auswanderer jüdischer Herkunft und aus Israel, die im reichen, schönen Berlin ihr Glück versuchen wollen. Ich soll dort vor Deutschen auftreten. Ich fahre, um ihnen ihre und meine eigene Geschichte, die sie, ihre Väter, Großeltern entstehen ließen, zu erzählen. Uns trennt eine mächtige Mauer. Wie breche ich sie durch? Und wozu, wozu eigentlich, zum Teufel?! Und wieso gerade ich, eine kleine, unauffällige Frau? Jemand warf mich ins Wasser, und ich soll blindlings darin schwimmen. Vielleicht bin ich es selbst, die stets in die unfassbaren Abgründe springt, sie erfindet, um sich immer wieder aufs neue mit meinem Schicksal, mit meinen inneren Kräften zu messen.
Mein Buch "Die Hoffnung stirbt zuletzt" erschien jetzt unvorhergesehener Weise in Deutschland. Dieses Buch wirkt sich eben so stark auf mein Leben nach dem Krieg aus. Anscheinend interessiert sich doch noch jemand für die in ihm enthaltenen Geschichten, oder erst jetzt fangen sie an sich zu interessieren, weil es gerade junge Deutsche waren, die es unlängst auf sich nahmen, es ins Deutsche zu übersetzen.
Vor fünfzig Jahren drangen die Worte: Berlin, Deutsche, Hitler in mein Bewusstsein ein, gruben sich in die Seele und in den Leib ein, wurden mein Schicksal – Leben, Tod, ewige Gegenwart. Ich war ein unbedeutende Staubteil, ein elendes Krümchen inmitten vieler, vieler vorzüglicher, großer und bedeutender Vertreter meines Volkes, das man einfach beschloss zu vernichten. Und gerade mir gelang es zu überleben, und fünfzig Jahre nach dem Grauenvollen eingeladen zu werden (nicht mit der von der Gestapo herbeigeführten Kraft) von Deutschen nach Berlin zu Vorlesungen über jene Zeiten. Unglaublich! Weil man in mir angeblich Fähigkeiten entdeckte, um es etwas poetisch auszudrücken – Geister herbeizurufen, zur Wiederbelebung oder eigentlich zur Verkörperung dieser, heute für viele faszinierende, Vergangenheit, obwohl es heute so viele neue Kriege und Quälereien gibt.
In diesem Augenblick, hier, im deutschen Flugzeug glaube ich nicht an den Sinn solcher Vorlesungen. Ich fliege mit der verklungenen Erzählung nach Berlin, wo man mich damals sofort getötet hätte, wenn ich damals auf seinem Straßenpflaster zu erscheinen gewagt hätte. Jetzt wird mich zumindest keiner einsperren, für mein jüdisches Aussehen keiner erschießen, einen Ausweis verlangen – ein „Lebensrecht“, also eine Bescheinigung, dass ich ein vorläufiges Recht auf Leben besitze ... Es ist gewissermaßen eine Genugtuung – die Rache einer zehnjährigen Warschauer Jüdin, die ich im September 1939 war, als das Nazi-Militär anfing polnische Städte und Dörfer zu bombardieren, zu morden, zu verbrennen und zu zerstören – und jetzt einer sechzigjährigen Frau, heute einer Israelin aus Herzlya.
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Last updated May 7th, 2013